Wenn wir erklimmen schwindelnde Höhen

„Leute, ihr wisst schon, dass wir gleich noch fahren müssen!?“ fragte ich in die Sektfrühstückrunde, die sich am Frankfurter Flughafen, kurz vor Check-in, breit gemacht hatte und nicht darauf schließen ließ, dass sich eine der teilnehmenden Personen nach 2 Stunden Flug noch ans Steuer setzen musste. 2 Bierflaschen, eine Sektflasche und vier liebevoll zusammengeschnürte Care-Pakete von Mama Jutta, die eine Prosecco Dose, einen Pfefferbeißer und eine 20g-Tüte Haribo für jeden bereithielten, präsentierte sich vor unseren Augen. Zugleich wurde Kristin der Alkohol entzogen, hatte sie für Mietwagen und Kaution unterschrieben und sich damit zur Fahrerin qualifiziert. Der 2-stündige Flug nach Barcelona verlief ohne Zwischenfälle, obwohl der Pilot schon vor Startbeginn Turbulenzen über dem Rhein-Main-Gebiet angedeutet hatte und Sissy daraufhin panisch und mit chronischer Flugangst empfahl bis nach Spanien einfach zu rollen. Man sollte nicht meinen, dass diese Frau bereits 67 Flüge hinter sich gebracht hatte.

In Barcelona schlugen uns alt bekannte Temperaturverhältnisse von 27 Grad entgegen und ich fragte mich, wofür wir die Ski-Unterwäsche eingepackt hatten. Die Fahrzeugübernahme des Renault Megane verlief auch viel zu reibungslos und die spanische Autobahn bot dank durchgehendem Tempolimit angenehmes Fahrvergnügen ohne jeglichen Stau oder Baustellen. „Die Leute, die nach Deutschland fahren, müssen sich doch fühlen wie im Krieg, wenn da einer mit 230 um die Ecke schießt!“

Im schönsten Sonnenuntergangsmodus, einem orange-gelben Dunst, der sich langsam auf die Straßen und Felder legte, verließen wir die Autobahn und fuhren in bewaldete, fast verlassene Gefilde, entlang einer endlos erscheinenden, kurvenreichen Strecke bis es stockdunkel wurde. Es begegnete uns kaum noch ein Auto und von Zivilisation war wenig bis gar nichts mehr zu sehen. In diesem Moment passierte uns im Schweinsgalopp eine spanischen Wildsau, die Kristin nur durch eine beherzte Vollbremsung verfehlte und die sich gerade noch so im Scheinwerferlicht ins dunkle Unterholz retten konnte. „Halleluja! Da haben wir aber Schwein gehabt!“

Wir erreichten Ainsa gegen 21 Uhr und fühlten uns zurückversetzt in eine andere Zeit. Vor uns eröffnete sich eine mittelalterliche Burg und eine serpentinenförmige Straße führte uns zu einer Festung hinauf, die auch gleichzeitig unser Domizil sein sollte. Authentisch, idyllisch, mittelalterlicher Flair. Wie in einem Medicus Film. Wir fühlten uns sofort heimisch.

Unsere Wohnung bot zwei großzügige Schlafzimmer und eine Küche, die zwar nur ein Messer, dafür aber einen Geschirrspüler und eine Waschmaschine offerierte. An einer preiswerten Tankstelle hatten wir uns zuvor mit dem Nötigsten eingedeckt, wobei der 24h-Supermarket keine Butter darzubieten hatte (Ich weiß Rebecca Dittmar, No-Go, absolutes No-Go). Die Alternative aus Frischkäse als erste Brotschicht war jedoch nicht zu verachten und so starteten wir mit frisch gebackenen Rühreiern und selbst angemachtem Porridge am nächsten Morgen in den Tag. Lediglich die spanische Brotvariation ließ zu wünschen übrig, zerfiel das glutenfreie Produkt noch beim Öffnen der Verpackung in sich zusammen.

Frisch gestärkt wollten wir die erste abenteuerliche Aktivität in Angriff nehmen. Klettersteig. Ganz gechillt. Familienedition. Das waren zumindest die Eckdaten, die mir wissentlich zugetragen worden waren. „Das wird so wie im Allgäu. Heilbronner Höhenweg-like.“ Und auch nur deshalb hatten Sissy und ich unser „Ok“ gegeben. Als wir uns dann dem ‚Via ferrata‘ gegenüberstellten, traf uns der Schlag. „Das geht ja steil die Wand hinauf!“ „Leute, ne echt jetzt?!“ Sissy und mir schlug das Herz bis auf Anschlag, während Löön und Kristin freudestrahlend ihre Sicherheitsgurte und Helme überstreiften. „Warum lass ich mich nur immer wieder auf solche Ideen ein? Hätten wir zum Einstieg nicht erst mal was entspannteres machen können?!“ Mein Lamentieren half wenig, da hatte der Guide Sissy schon die ersten Meter hoch instruiert. „Oh Gott, kann ich bitte wieder runter!“, jammerte Sissy nach gerade mal 3 Stufen hochwärts. Auch mir zitterten die Knie bis Anschlag und nur beim Anblick von Löön in himmelweiten Höhen wurde mir schlecht. Ein Ecuador Déjà-vu ereilte uns. Nur, dass die Felswand diesmal viermal so hoch war und der Abgrund, - ach sprechen wir lieber nicht drüber.

„Wenn wir erklimmen schwindelde Höhen,
steigen dem Gipfelkreuz zu,
in unsern Herzen brennt eine Sehnsucht,
die läßt uns nimmermehr in Ruh´.
Herrliche Berge, sonnige Höhen,
Bergvagabunden sind wir.“ 


In absoluter Tiefenentspanntheit trug Kristin den Songtext vor, während ich hochkonzentriert und definitiv unentspannt an der Felswand hing und mich fragte, wie ich den nächsten überhängenden Steinbrocken wohl überwinden könnte. Von weiter oben immer wieder Sissys Stimme „Das nimmt ja gar kein Ende.!“ „Oh man, wie soll ich denn hier rüber kommen?“ „Kann mir bitte jemand einen Helikopter ordern?“ Von Löön schon weit und breit nichts mehr zu sehen. „Die ist wahrscheinlich schon am Gipfel und macht Mittag.“ Eineinhalb Stunden dauerte die Kletterprozedur an, in der es kaum Verschnaufpausen und vor allen Dingen keine Zwischenstation für Erholung gab. Als weiter hoch, immer gesichert und zu jederzeit den Abgrund im Rücken. „Auf keinen Fall runter schauen. Nur die Wand fokussieren.“ redete ich mir immer wieder zu. Mit letzten Kräften zerrten wir uns bis zum Gipfelplateau nach oben. Endlich, die Plattform zur Erholung und Entspannung war erreicht. „Was ist das denn hier oben?“ rief Sissy. „Ach du scheisse, hier kann ich ja nicht mal stehen.“ Als auch ich mich nach oben gezogen hatte, betrachte ich den Fauxpas. Ein Plateau, so schmal wie zwei Fußabdrücke, das nicht viel mehr als fünf Leute auf engstem Raum beherbergen konnte und zu allen Seiten steil bergab führte. Ich war entsetzt. Sissy war entsetzt. Kristin und Löön machten Poserfotos am Rand der Felsklippe. Völlig unentspannt und mit einer Hand fest das Stahlseil umklammernd, schoben wir uns die zerfallenen Weizenmehlbrote ein und genossen mehr oder wenig den Ausblick mit Kaiserwetter zur Mittagszeit. Der Abstieg zur anderen Seite entwickelte sich wenigstens etwas machbarer und ab der Mitte konnten wir tatsächlich ungesichert den Rückweg antreten. Während eines intensiven Dialoges verloren Löön und ich jedoch die anderen drei und bogen fehlerhaft in ein Buschgestrüpp ab. Bei dem Versuch wieder auf den korrekten Weg zu gelangen, löste ich eine kleine Felslawine aus, die bis in die Sierra Nevada schepperte.

Wir hatten einmal wieder überlebt, was noch immer sehr unglaublich schien. Wir belohnten uns mit zwei Bier und begaben uns am Abend auf Essensuche, wollten wir die lokalen Spezialitäten nicht außer Acht lassen. Dieses Unterfangen gestaltete sich jedoch schwieriger als gedacht, hatten die Hälfte der Restaurants wegen Dienstag geschlossen und wies uns der andere Teil augenverdrehend ab. „Wollen die hier kein Geld verdienen?“ fragten wir uns in die menschenleeren Lokalitäten, bis wir am Ende der Straße endlich eine Beherbergung fanden. „Das könnte Esel sein.“ stellte ich fest, als ich von der bunten Grillplatte probierte, die Sissy und Kristin bestellt hatten. „Hast du schon mal Esel gegessen?“ fragte Kristin erstaunt. „Nein, aber ich könnte mir vorstellen, dass Esel genauso furchtbar schmeckt.“ Die Paella Pfanne für Löön und mich traf mit 30-minütiger Verspätung ein und erwies sich ebenfalls als Reinfall. „Morgen kochen wir wieder selbst.“

Wir werden sehen, was der nächste Tag bringt. Eigentlich steht eine Rafting Tour, Stufe 4 auf der Agenda. Jedoch ist zum einen der Wasserstand sehr niedrig und zum anderen plagen mich seit geraumer Zeit übelste Halsschmerzen. „Hätte ich mir doch diese blöde Mandeln entfernen lassen.“ Und mit diesen Worten arbeitete ich mir Kristins halbe Reiseapotheke in den Magen. 

Fels ist bezwungen, frei atmen Lungen,
ach, wie so schön ist die Welt.
Handschlag, ein Lächeln, Mühen vergessen,
alles auf´s Beste bestellt.
Herrliche Berge


 


 


 


 


 


 


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