Die Meter nimmt uns keiner mehr.

Prolog

"Also, ich mag ja wandern. Aber DIESE Berge!", mit zittrigen Knien blickte Seli auf das alpine Gelände und die 12 Kilometer Auf und Ab, die wir innerhalb von 8 Stunden zurückgelegt hatten. Auch Tine haderte mit ihrem verdrehten Knie und ich krümmte mich vor Magenschmerzen. Nur die beiden Hochleistungsmaschinen, Sonja und Kristin, grinsten fröhlich und unermüdlich wie nie und legten noch eine Zusatztour, zu einem Gletschersee, ein. Um es kurz zu fassen: Es war alles wie immer.


Tag 1

Wir waren kaum zu Schlaf gekommen, als wir um 3 Uhr nachts, mit voll gepacktem Gefährt, Richtung Süden rollten. Eine Duftwolkenmischung aus ausgelaufenem Männerparfüm und 2 Kilo Pfefferbeißerwurst, bereicherte die knapp 8-stündige Fahrt ins Stubaier Tal in Österreich. Gleich am ersten Tag stand uns eine Etappe von 1.000 Höhenmetern, reiner Aufstieg, bevor. Trotz etlicher Foto- und Snackstopps kamen wir gut voran. "Jeder verzehrte Riegel zählt." lautetet die Devise und traf bei Selis Großfamilienpackung, die sicherlich für 3 Wochen ausreichend gewesen wäre, auf ein Vielfaches zu. Gegen 17 Uhr erreichten wir die Neue Regensburger Hütte, die ihrem Namen alle Ehre machte. Ein "Palast" aus frischen Holzfassaden, blitzeblanken Bädern und großzügiger Stromversorgung pro 4-Bett-Schlafzimmer, eröffnete sich vor unseren leuchteten Augen. Kaum zu glauben, dass Wanderer bis vor ein paar Jahren, noch auf Heuböden übernachten mussten, wir nun aber dieses hochmoderne Etablissement beziehen durften. Einziges Manko: es war ein 4-Bett Zimmer und somit entschied das Losverfahren, wer mit der 3-köpfigen holländischen Familie die Nacht verbringen konnte. Tourguide Tine zog das Glückslos und nistete sich neben dem 16-jährigen Sohn der Familie ein. Checkpott :)

Zum Abendessen erwartete uns ein grandioses Grillbuffett, welches keine Wünsche offen ließ. Zudem gönnten wir uns noch einen Kaiserschmarrn, der sich zu einem späteren Zeitpunkt, gegen 3 weitere Kaiserschmarrns auf anderen Hütten, in der Zubereitungsbewertung duellieren musste. Während Seli und mir das karamelisierte Dessert sehr zusagte, hagelte es von Kristin Minuspunkte ohne Ende. Der arme, kleine Kasierschmarrn konnte nur durch ausreichende Bewertungen von Sonja und Tine versetzt werden.

Tag 2

Frühstückbuffet, ein paar Videosequenzen und Starterfotos - und weiter ging die Reise. 12 stramme Kilometer, durch Höhen wie Tiefen, standen uns bevor. "Ihr habt mir versprochen, dass es diese Mal nicht so schlimm wird." reklammierte Seli, während wir nach zwei Stunden Gehweg zurückblickten und die Hütte immer noch ohne Fernglas erkennen konnten. "Wir müssen ja auch ständig stehen bleiben, wegen unnötiger Zip-on-Zip-off Anpassungen." verteitigte Sonja. Wenig später kraxelten wir die erste Wand hinauf und durchquerten ein Schneefeld. Kaum hatten wir den Berggrad erreicht, setzte ein Regenschauer ein, wodurch wir abermals gezwungen waren einen Modewechsel vorzunehmen. Unsere Rucksäcke leuchteten fortan, mit buntem Regencape, fast so schön wir unsere textmarkerfarbenen Einheits-T-Shirts. "Bald habt ihrs geschafft." ermutigte  uns ein entgegen kommender Wanderer. "Um 15 Uhr seid ihr auf der Hütte." Er konnte ja nicht ahnen, dass er uns damit maßlos überschätzt hatte.

Selis Gesamtleiden, Tines verdrehtes Knie und mein einsetzender Magenschmerz, machten uns einen deutlichen Strich durch die Rechnung. Aufmunterungen wie "Schaut mal, da fahren sogar Autos den Berg zur Hütte hinauf." konnte ich nur mit einem "Kristin, erzählt's mal wieder einen vom Pferd." erwidern. Seli träumte derweil von einem Bergtaxi und Tine stornierte innerlich alle weiteren Routenoptionen. Zwei Stunden vor Erreichen der Dresdner Hütte, trennten sich dann unsere Wege. Die völlig unverbrauchten Maschinen, Sonja und Kristin, schlugen eine Zusatzroute und entsprechende 20 Minuten Umweg ein, während wir drei geschädigten Invaliden den direkten Weg zur Hütte aufsuchten. Starker Regen setzte ein und der Pfad schlängelte sich ins Unendliche. Alle 5 Minuten musste eine Verschnaufpause eingelegt werden. "Ich kann nicht mehr!" war das Einzige, was noch zu hören war. Die letzte "Wand" vor der Dresdner Hütte sollte noch einmal alles von uns abverlangen. Als wir die Mitte der Wand erreicht hatten, warf Seli ihren Rucksack ab und rief zum Sitzstreik auf. "Ich muss jetzt erst mal was essen, ansonsten gehe ich keinen Schritt weiter!" Während Tine und Seli einen Haferflockenriegel verzehrten, hielt ich Ausschau nach den Maschinen, die uns gefährlich nahe gekommen waren. "Leute, lasst uns aufbrechen, die haben uns gleich eingeholt." "Das ist mir sowas von egal." resignierte Tine. Und auch Seli war die Ruhe herself, als sie Riegel Nummer zwei in Augenschein nahm.

Als die beiden ICEs uns eigeholt hatten, setzten wir den Weg nach oben fort und erreichten schlussendlich die Unterkunft für diese Nacht. Schnitzel, Pommes, drei Schnapserl für den Magen und ab in die Koje. Wir teilten uns in dieser Nacht das Zimmer mit zwei Holländern und wunderten uns einmal mehr mit welch hohem prozentualen Anteil Team Oranje in den Bergen vertreten war.

Tag 3

Erste Verluste. Nach dem reichhaltigen Frühstück, entschieden wir in gemeinschaftlicher Abstimmung, Routenplanung und Gruppenaufteilung abzuändern. Tines Knie, welches zu einem späteren Zeitpunkt die ärztliche Diagnose "drohender Bänderriss" erhielt, zwang von einem Weitergehen abzusehen. Solidarisch blieb Seli an Tines Seite und entschied sich ebenfalls, ganz uneigennützig, für einen Hüttentag. Aufgrund nicht anhaltender Magenschmerzen, hatte ich keine Ausrede mehr, nicht mit Team "Chuck Norris" weiterzuziehen und so begaben sich Sonja, Kristin und ich auf die dritte Etappe zur Sulzenauer Hütte. Der Himmel war grau und leichter Regen setzte ein. Gleich zu Beginn ging es nur bergauf. Angeführt von Sonjas Stechschritt, überholten wir bereits nach einer halben Stunde eine 20-köpfige Truppe aus Litauen, die uns jedoch dicht auf den Fersen bliebe. Erst am Peiljoch hängten wir die litauische Kavallerie mit einem Abstiegsspurt ab. Starker Regen, leichter Hagel und eine Nebelwand begleiteten uns fortan, bis sich plötzlich der Nebel lichtete und wir vor einem überwältigten Gletscher und fast arktischem See standen. Ein traumhafter Anblick.

Wir überholten zwei weitere, holländische Wanderpaare und erreichten nach knapp 3 Stunden, völlig durchnässt, die Sulzenauer Hütte. Eine Duftwolke eines jahrelang gelagerten Handkäsesortiments, hauchte uns bereits 20 Meter vor der Hütte entgegen. Bei Betreten des Trockenraumes haute es uns dann fast aus den Latschen. Eine Mischung aus nasser Hund, Schweiß und 30 Wanderschuhpaaren durchdrang die soeben geöffnete Tür und wirkte fast wie ein Ohmächtigkeitsmittel auf uns ein. Nur knapp entgingen wir einer Nasenvergiftung und retteten uns in letzter Sekunde aus dem Trockenraum und in die Dusche. 3 Minuten Duschzeit, Handwäschevollprogramm und 2 Minuten trocknende Luft später, fanden wir uns zu einer wärmenden Backerbsensuppe in der Hütte wieder. Es war erst 14 Uhr und somit mussten wir uns mit diversen Kartenspielen und einem 350-Teile Puzzle, mit vielen rosafarbenen Elementen, bis zum Abendessen durchschlagen. Ein leckeres Gulasch mit Vor- und Nachspeise wurde serviert, on-top gab es einen Kasierschmarrn, der mit der bis dato Bestnote 2+ abschnitt. Als wir nur kurz unsere Sitzplätze für einen Verdauungsspaziergang verlassen hatten, hatte uns Team Holland, in Windes Eile, von unserem Tisch vertrieben. Wir fanden glücklicherweise noch ein Plätzchen neben einem Alpenüberquerer, der die beiden Maschinen von neuen Herausforderungen träumen ließ. Nach 3 Schnaps intus, stimmte ich dem völlig utopischen Unterfangen, einer Alpenüberquerung im Jahre 2020, zu und buchte gedanklich 3 Wochen Strand- und Erholungsurlaub hinzu.

Tag 4

Matratzenlager. 29 Personen. Engster Raum. Ein Schnarcher. Es hätte zu einer sehr ungemütlichen Nacht kommen können, wären wir nicht so erschöpft gewesen. Und so schliefen wir, trotz der unruhigen Ausgangslage, nach einer Stunde ein, um um 8 Uhr, nach Frühstück und Packvorgang, frühstmöglich aufbrechen zu können. Entgegen der Wettervorhersage strömte es weder, noch waren Donner und Blitz zu hören und zu sehen. Daher entschieden wir, weiter bis zur Nürnberger Hütte zu laufen und von dort aus abzusteigen. Sonja hatte in der einen Millisekunde, in der sie, irgendwo Nähe Abgrund, Empfang hatte, Seli eine Sprachnachricht mit der neuen Routenplanung zukommen lassen. Wir marschierten zügig los - und wenn ich marschieren schreibe, dann meine ich das auch so. Nach kurzer Zeit hatten wir mindestens 8 holländische Wanderpaare und weitere Personengruppen überholt. Kristin brauchte Auslauf und Sonja war noch lange nicht ausgelastet. Ich hechtete hinterher und musste mich, spätestens am Abstiegsklettersteig zur Nürnbergerhütte, geschlagen geben. Das war schone lange keine Waschbärroute mehr und trug nicht umsonst die schwarze Markierung. Nur mühsam und mit viel Höhenpanik im Kopf, arbeitete ich mich den Abgrund hinunter. Dass die anderen nicht weiter beeinträchtigt schienen, muss ich wohl nicht erwähnen.

Wir ereichten gegen Mittag die urige Hütte und kehrten noch mal auf ein leckeres Stück Kuchen und eine Tasse Kaffee ein. Danach ging es tatsächlich nur noch bergab, wo uns Seli und Tine bereits am Parkplatz erwarteten. Mit einem letzten Teller Kaiserschmarrn, der von allen Beteiligten eine 1+ mit Sternchen erhielt, verabschiedeten wir uns aus dem Stubaier Tal, nicht ohne das Versprechen noch einmal zurückzukehren. Auch Seli.

Bis zum Schluss konnte nicht gänzlich geklärt werden, warum wir fast alle (bis auf Tine) mit Magenkrämpfen zu kämpfen hatten und auch die Frage zur plastikfreien Zahnpastatablette „Was sagen eigentlich Zahnärzte hierzu?“ blieb unbeantwortet. Jedoch stellten wir einmal mehr fest, dass Wandern und die Berge, trotz aller Anstrengungen, wohl die schönste Art der Fortbewegung ist und einen alle größeren und kleineren Probleme, zumindest für eine Weile, vergessen lässt. 

"Ein kleines, aber intensives Stück Glück
oben in den Bergen. Das ist es.
Der Weg dorthin ist Schweiß, ist Fels, ist Eis,
übersät mit Stolpersteinen und Glücksperlen."

- unbekannt


Die drei großen Lügen der Hüttenwanderungstour:

1. Diesmal wird's nicht so schlimm
2. Schau mal, da vorne gibt's ein Bergtaxi
3. Nach der Sulzenauer Hütte steigen wir dann auf direktem Weg ab


Die drei besten Witze der Tour:

1. Kristin isst keinen Honig. Sie kaut Bienen.
2. Kristin hat alle Pokemons gefangen. Mit dem Festnetztelefon.
3. Kristin bekommt bei Praktiker 20% auf alles. Auch auf Tiernahrung.