What it means.

"Herr Janosch, was brauchen wir um alle Grenzen zu überwinden, die uns trennen?"
"Vor allem Flügel."


"Mögt ihr das Meer?" fragte ich Tatjana und Viktoriia, als wir am Rheinufer standen und die Wellenwogen beobachteten.
"Ja, sehr. Aber wir werden an unser Meer wahrscheinlich nicht mehr zurückkehren können. Es ist alles vermint."

Es sind diese Momente, die einen demütig werden lassen. Was wir doch für ein großes Glück bisher in diesem Leben hatten. Ich denke an meine Oma, die als Kind aus Frankfurt flüchten müssten, als vor ihren Augen das Haus ihrer Eltern zerbombt wurde. Nur mit einem Koffer, mehr konnten sie nicht retten. Und ich denke an meinem Opa, dessen Vater an der Krim ums Leben kam. Das eigene Haus besetzt, erst von den Deutschen, später von den Amerikanern. Mein Opa, gerade mal 8, nur die Schwester, Mutter und Tante mit im Haus. Da wurde keiner gefragt. Man musste das Leben nehmen wie es kam.

"Wir fahren ans Meer." beschloss ich und meine Mutter packte die Taschen. "Völliger Irrsinn bei diesen horrenden Spritpreisen für eine Nacht nach Holland zu fahren, aber egal. Wer weiß was noch für Zeiten auf uns zukommen werden."
Egal, das war sowieso unser Lieblingswort. Konnte Sprachtalent Mr. Google noch bis zur Grenze alle Übersetzungstätigkeiten erfüllen, so legte er ab Holland seine Onlinedienste nieder. Zumindest für die Handys unserer Ukrainierinnen, deren Tarif keinerlei Roamingmöglichkeiten vorsah. Wenn etwas nicht verstanden wurde "Egal". Wenn man mal wieder etwas missverstanden wurde "Egal". Wenn wir uns verfuhren "Egal".
Es wurde alles ausgekramt: Englisch, Deutsch, Russisch, Ukrainisch, Französisch, Spanisch, Zeichensprache. Alles was uns einfiel in einen großen Topf. Und irgendwann versteht sichs von selbst.

Unser erster Stopp galt dem Friedenspalast in Den Haag. Ein schönes, beindruckendes Gebäude, in dem auch der europäische Gerichtshof tagt. Doch wir durften den Frieden nur von außen betrachten. Wer hineinwollte brauchte Ausweise oder Reservierungen. "Halt! Stopp! Hier geht es nicht weiter." Enttäuscht schauten wir in den akribisch und sauber angelegten Park des Palastes. Und dann fuhren wir weiter ans Meer und den Scheveningener Strand. Hier gab es mehr Frieden für uns. Wellen, Meeresluft, Sand und Sonne. Überdankbare und freudenstrahlende Gesichter. Was so ein bisschen Meer schon kann.

Die Straßen Den Haags erinnerten an Marrakesch. Enge Gässchen, Baustellen, Umleitungen, kreuzende Fahrradfahrer und Menschenmassen. Die marokkanische Fahrausbildung machte sich mehrfach bezahlt. Denn hier in Holland hat der Autofahrer wenig zu melden und muss sich den Gesetzen des nicht motorisierten Volkes untergeben. Voller Fokus auf Straße, Mitmenschen und Fahrräder, die aus allen Ecken und Hinterhalten vorbei zischten. Blut und Wasser schwitzend durchfuhren wir die Innenstadt, um zu unserem Hotel zu gelangen. "Wir nehmen jetzt das Parkhaus. Ist doch egal!" "Besser 29,95 € Parkgebühren als dass ich hier gleich noch einen Herzinfarkt erleide!"

Das Central Park Hotel machte seinem Namen alle Ehre. Nicht nur, dass es super zentral angesiedelt war, es ließ einem, in dem königlich, traditionell angehauchten Viertel, auch noch wie ein Gast des Hofes fühlen. "Winter is coming" bemerkten wir, als wir das Foyer mit Kaminfeuer, bei 27 Grad Außentemperatur, durchschritten. Auf unseren abendlichen Erkundungen durch die Stadt, passierten wir nicht nur den königlichen Palast "Noordeinde", sondern durften auch die prachtvolle Statue unseres Lokalhelden, Wilhelm von Oranien aus Dillenburg, gleich gegenüber bewundern. Randnotiz: Was hätte Ghosttown Dillenburg doch alles aus sich machen können...so viel verschenktes Potenzial.

Den Abend ließen wir in Angies's Kitchen mit vitaminreichen Bieren und Cocktails, sowie holländischen Snackplattern ausklingen. Außerdem opferte ich 80% meines Datenvolumens um die Streamingdienste des ZDF in Anspruch nehmen zu dürfen, erhält man mit holländischem free-Wifi keinerlei Nutzungsrechte auf unsere Steuer-finanzierten Sender. (Finden wir das jetzt gut oder schlecht? -Egal, Hauptsache Deutschland gewinnt!)

Zum Frühstück lud uns Mama Gisela in ein Straßencafé ein und wir genossen bei Rührei, Poffeertjes und Omelett das morgendliche Treiben in Den Haag. "Plyazhnyy oder City?" Mit wenig Vokabular und fast blindem Verständnis, einigten wir uns ohne Verzögerung darauf, dass der Strand heute verloren hatte und diese bemerkenswerte, idyllische Stadt weiter erkundet werden musste. Wer hätte gedacht, dass Den Haag doch so ansehnlich ist und mindestens genauso viel zu bieten hat, wie seine prominenten Begleiter Amsterdam und Rotterdam.

Mit 'C'est la vie", "L'amour toujours" und "La Gare du Nord" kramten wir auf dem Rückweg noch mal alle Vokabeln heraus, an die wir uns aus 3 Jahren Französisch-Schulzeit erinnern konnten. "Immerhin haben wir die gleichen unnützen Phrasen gelernt." bemerkend wir lachend. Was einen trotz aller kulturellen und sprachlichen Barrieren verbindet, das sind die Erinnerungen aus Kindheit und Jugend. Es ist die Musik, Spiele, Weltgeschehnisse, die gleichen Freuden und derselbe Schmerz.

"Ich hoffe, dass wir euch eines Tages am Schwarzen Meer besuchen können, wenn alles vorbei ist." Bis dahin nehmen wir das Leben wie es kommt.