Hätte, hätte, Fahrradkette!

"Spürt ihr auch diese Wärme am Rücken? Schaut doch mal, die Sonne kommt als mehr raus."

Man muss es sich nur passend reden! - diese Weisheit gab uns Mama Jutta mit auf den Weg, der uns ins vernebelte und nieselnde Sauerland führen sollte.

Zuvor waren wir um 8:30 Uhr mit Zug und Bahn von Herborn ins Dietzhölztal gestartet und nahmen bei Grau-Service-Catering ein 5-Sterne Frühstücksmenü ein. "Da kann das Cafe Zeitlos einpacken" - schmatzte Löön freudestrahlend, als sie bereits zum zweiten Kochschinken-Remouladen-Brötchen mit Salat- und Tomatentopping griff. Eine Flasche Sekt, Bohnenkaffe, frischer Minztee und saftige Zitronenscheiben verfeinerten das Buffet. Auch der griechische Himbeerjoghurt soll nicht unerwähnt bleiben, den Becks als letzte Henkersmahlzeit zu sich nahm, bevor sie wenige Minuten später ihrem Schicksal in die Augen sehen musste. "Sie sagten es würde nicht so schlimm wie am Rothaarsteig!“, jammerte Becks. "Mach dir keine Gedanken", wirkte Mama Jutta beruhigend und einfühlsam auf sie ein, "Ich hole dich, wenn irgendetwas ist."

Mit diesen seelsorgerischen Worten, die uns die nächsten zwei Tage begleiten sollten, sattelten wir die Canyon-Flotte und radelten schwungvoll dem Alpenhaus entgegen, das irgendwo im Nirgendwo des tiefsten Sauerlandes liegt. Und wenn ich schwungvoll schreibe, so meine ich damit die ersten 1,5 Kilometer, welche strack berghoch führten und uns in der ersten Kurve den sofortigen "Zip-Off"-Modus aktivieren ließen. Schweiß gebadet und noch 51,1 Kilometer vor uns, radelten wir die nächsten 10 Kilometer weiter bergauf. Ein Ende des Weges war nicht zu sehen, dafür ein märchenhafter, fast tropenhafter, Nebelwald im Dietzhölztaler Waldherzen.

Am Tage zuvor hatte es noch aus Kübeln gegossen und so machte sich der feuchte und klitschige Untergrund insbesondere auf den Verwurzelungen bemerkbar. "Ich seh den Schlüsselbeinbruch schon mir!", warnte ich mehrfach, während die anderen frohen Mutes und problemlos das Holzmaterial überquerten. Kurz vor Erreichen der Ilsequelle lederte es mich dann aus dem Sattel und ich stürzte kopfüber ins Gras. Außer ein paar blaue Flecken und einem Tennisarm-ähnlichen Schulterzustand, blieb ich jedoch unverletzt. Die nächsten unfreiwilligen Pausenstopps mussten wegen Kristins Fahrradkette eingelegt werden, welche schlimmere Geräusche von sich gab, als ein ausgemusterter Trabbikatalysator. Die wunderbare Stille des Waldes wurde permanent von einem ungesunden Kettenknacken unterbrochen. "Kristin, nun schalt‘ doch mal richtig" mahnte Löön. "Ich schalte doch gar nicht!“, verteidigte sich Kristin mehrfach. "Ob das mal bis zum Ende der Reise gut geht" dachte ich mir, während Becks innerlich jeden Kettenstopp wie einen Geburtstag feierte. "Immer diese Gewaltstouren! Könnt ihr euch nicht mal einen Höhenweg ausdenken, der nicht ständig runter und wieder hochgeht?!"

Nachdem sich Löön und Kristin auch noch mal mit dem Rad gelegt hatten, Kristins Kette alle drei Kilometer instandgesetzt werden musste und die Reisegruppe bergauf wegen Becks und bergab wegen mir, pausieren musste, trat bei Kilometer 44 das absolute Desaster ein. An einem, fast senkrecht bergauf führendem, Wandtrailstück, stoppte Kristin ruckartig und fluchte lautstark: „Jetzt ist alles im Argen!" Die Kette ging nicht mehr vor und nicht mehr zurück. Becks leistete Erste Hilfe und auch Löön und ich begutachteten die Sachlage ratlos. Irgendetwas hatte sich völlig verhakt. Nach viel Grübelei fanden wir jedoch den Übeltäter des Geschehens: PLASTIK! Eine undefinierbare Scheibe, die sich - aus welchen Gründen auch immer - in der Nähe der Kette befand, hatte alles verhakt. Mit vereinten Kräften (ich agierte nur als aufmerksamer Zuschauer), wurde dieses unnütze Plastikobjekt mit Schere, Taschenmessersäge und viel Gewalt aus dem Rahmen entfernt. "Passt auf das Mikroplastik auf!" mahnte ich an und Löön verstaute es behutsam in ihrem mitgebrachten Müllbeutel.

Nach einer gefühlten Unendlichkeit, setzten wir die Reise fort und erreichten schlussendlich nach acht strammen Stunden unser Ziel, das Alpenhaus. Vier Russ, zwei Sektdosen und viermal Schnitzel mit Champignonweißweinsoße - erschöpfte Frauen können sehr pflegeleicht sein. Jeder noch mal duschen und dann direkt in die Horizontale. "Ich glaub’ ich will mich morgen abholen lassen, Mama Jutta!" heulte Becks und "Meine Schulter, ich glaube ich habe einen Tennisarm!" weinte ich. Selbst Löön war zu keiner weiteren Handlungstat mehr fähig, nur Kristin-the-Machine war still on-fire und hätte am liebsten die Nacht zum Tag gemacht. "Mit euch ist echt nichts mehr los!“ monierte sie. Doch das konnten wir nicht mehr hören, waren wir alle bereits in einen erholsamen Tiefschlaf gefallen.

Am nächsten Morgen saßen wir geputzt und gestriegelt mit allen Gästen der Hütte um Punkt 8:30 Uhr beim Frühstück. Es wurde 8:45, 9:00, dann 9:15, bis Kristin den Wirt aus dem Bett klingelte und wir um 9:45 Uhr endlich unseren Kaffee und Brotutensilien erhielten. "Na prima, unsere Planung sah eine Abfahrt um halb zehn vor.", stellte Löön trocken fest. "Dann müssen wir heute mal einen Zahn zulegen. Es stehen 70 Kilometer auf auf dem Programm." Und in diesem Moment fiel Becks wohl alles aus dem Gesicht. 

Um 10:30 Uhr verließen wir endlich die feine, urige Alpenhütte und starteten unseren Weg Richtung Herborn. Unendliche Höhenmeter, klitschige Abfahrten und Nieselregen begleiteten uns auf unserer Etappe. Ein ständiger On- und Offzipmodus wurde angewandt bis ich endgültig kapitulierte und die Regenjacke einfach ausließ. "Es schickt mir jetzt!" Außerdem hatte ich genug Adrenalin und Angstschweiß von den Abfahrten intus, sodass ich kaum in den Gefriermodus gelangte. Becks war unterdessen überhaupt nicht mehr ansprechbar und checkte regelmäßig die Netzverfügbarkeit, um Mama Jutta anwählen zu können. Von Anstrengung und Schweiß war dafür bei den beiden Doppelmaschinen, die synchron ihre Wege bergauf bestritten, nichts zu sehen. Kristin-the-machine und Löön (halb Mensch, halb Maschine) ließen die Fahrt so aussehen, als würden sie das mal eben aus dem Ärmel schütteln. Ich musste neidlos anerkennen, dass ich wohl doch nur ein kleiner Rohrantrieb war.

"Leute, ich ruf jetzt Mama Jutta an." An Kilometer 50 warf Becks die Flinte ins Korn und wählte die Nummer. „Hallo?" -

„Hier ist Becks, eine von den verrückten Mädels, die mit deiner Tochter unterwegs ist.“ Und in einer Engelsstimme sprach Mama Jutta am anderen Ende: „Darf ich dich abholen, du armes Kind?"

Wir kehrten allesamt kurzentschlossen nochmals in Ewersbach ein und wurden mit einem Kaffeemenü, Obstsalat und vielen anderen Herrlichkeiten überrascht. Es war wie im Himmel. Die Augen von uns Vieren leuchteten und wir waren glückselig vor Freude. Welch grandioses Highlight auf dieser Tour!

Von Ewersbach waren es dann nur noch wir drei, die weiter nach Herborn strampelten. "Bitte den einfachen, schnellen Radweg. Mehr schaffe ich heute nicht" Und so wählten wir die trostlose Trashroute, entlang der Bundesstraße, Häusern und Industriegebilden. "Welch ein Trauerspiel.", bemerkte Löön, doch wir waren alle heilfroh, als wir den Istanbul-Döner in Herborn erreichten und ein letztes Mahl zusammen einnahmen. "Geschafft!", stießen wir mit dem letzten Dosenprosecco an und ließen uns, den in Knoblauchsoße-getränkten Döner, munden.


2 Tage - 125 Kilometer - 2212 Höhenmeter


Die drei großen Lügen der Mountainbiketour:

1. Das war der letzte Berg

2. Gleich wird nur noch gerollt

3. Frühstück gibt's um halb neun